Die Impfpflicht wird derzeit von vielen als der heilige Gral der Pandemiebekämpfung angepriesen und auch eingefordert. Zugegeben, hätten wir eine Impfpflicht im Sommer eingeführt, sähen die Inzidenzen und die Bettenbelegungen in den Krankenhäusern deutlich besser aus. Gleich eines vorweg: Ich bin fest davon überzeugt, dass die einzige Chance, um aus der Pandemie herauszukommen, ist, dass sich möglichst viele Menschen im Land impfen lassen. Außer dem Bruchteil an Menschen, die sich tatsächlich z.B. wegen Unverträglichkeiten oder Vorerkrankungen nicht impfen lassen können, kann ich keinen wissenschaftlich fundierten Grund gegen eine Impfung erkennen.
Darum fordere ich auch jeden zum Gang zum Impfarzt auf.
Aber hilft uns eine Impfpflicht in der jetzigen Situation wirklich?
Ich habe mir auch wegen einer Anfrage einer Bürgerin dazu einige Überlegungen aufgeschrieben, die ich hier gerne teile.
Ich schließe eine allgemeine Impfpflicht gar nicht aus, es kann der Moment kommen, in der sie unabdingbar ist. Ich halte eine allgemeine Impfpflicht grundsätzlich auch mit liberalen Werten für vereinbar, schließlich heißt liberal nicht alles egal, sondern beruht auf einem Freiheitsverständnis, bei dem die individuelle Freiheit dort endet, wo die Freiheit von anderen betroffen ist. Darum ist das Impfen aus meiner Sicht schon eine moralische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Der Staat und die Gesellschaft helfen, teils auch ehrenamtlich, jedem aus der Klemme. Auch dann, wenn man selbst verschuldet in einer Notlage ist, kennt unser Land Mechanismen, die einen Auffangen und sich solidarisch zeigen.
Darum ist es an der Zeit, unserem Land etwas zurückzugeben, den Arm hinzuhalten und sich impfen zu lassen.
Die Argumente gegen eine Impfung von „Notzulassung“ (war in den USA so, nicht in der EU) über „DNA-Veränderungen der Geimpften“ (völliger Humbug), das „Warten auf den Totimpfstoff“ (gibt es jetzt, aber noch nicht in der Masse und hat in China nur halblebig funktioniert), die „mangelnde Erprobung“ (7 Mrd. Impfungen weltweit sind mehr als genug Probe) und „unbekannte Langzeitwirkungen“ (sind eigentlich ausgeschlossen, da sich der Impfstoff sehr schnell abbaut und die entstandenen Antikörper nach einigen Monaten verschwinden) sind keine Gründe mehr, die ich nachvollziehen kann.
Warum jetzt also keine Impfpflicht?
Ich halte eine Impfpflicht rechtlich für möglich. Es muss aber immer abgewogen werden, ob eine Entscheidung für oder gegen ein Gesetz zu einer Verbesserung führt und was die dabei zu erwartenden Verschlechterungen oder gesellschaftlichen bzw. finanziellen Kosten sind.
In diesem Abwägungsprozess stelle ich zum – jetzigen Zeitpunkt – folgende Thesen fest:
- Wenn ab morgen eine Impfpflicht gelten würde, würde das nichts beschleunigen. Die Impfstellen und Arztpraxen bestellen wegen der hohen Nachfrage mehr Impfstoff als sie bekommen. Teilweise sind die Impfstellen überlaufen, Leute werden weggeschickt, nachdem sie stundenlang in der Schlange stehen. An dieser Situation kann eine Impfpflicht nichts ändern, sie verschärft sie eher noch.
- Eine Impfpflicht hat auf das aktuelle Infektionsgeschehen keinerlei Einfluss, da die Impfung erst ab der zweiten Dosis vollständig wirkt, wobei zwischen der ersten und der zweiten Dosis vier bis sechs Wochen liegen und dann noch zwei weitere Wochen gewartet werden muss, bis der Impfschutz vollständig ist. Wenn man dann noch annimmt, dass im Höchststand 1,6 Mio. Menschen an einem Tag geimpft wurden (15.12.2021, Quelle Impfdashboard.de) und heute nur 227.000 Impfdosen verabreicht wurden (3.1.2021, Quelle Impfdashboard.de), ergibt sich ein sehr schön gerechnetes durchschnittliches Impftempo von ca. 1 Mio. pro Tag. Etwa 19 Mio. haben Menschen noch keine Impfung. Es müssen also noch ca. 36 Mio. Impfungen (zwei Dosen) verabreicht werden. Das dauerte beim derzeitigen Tempo ca. 65 Tage, wenn man von einem Impfabstand von nur vier Wochen ausgeht. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass das logistisch und auch aufgrund der Skeptiker definitiv länger dauert. Außerdem ist nicht berücksichtigt, dass auch die bereits Geimpften ihren Booster brauchen (ca. 24 Mio. Personen). Dadurch erhöht sich die Zahl der zu verabreichenden Impfungen auf mindestens 60 Mio. Damit sind wir schon bei rund drei Monaten bis alle notwendigen Impfungen verabreicht sind. Das heißt, eine theoretische vollständige Immunisierung ist frühestens Ende März erreicht.
- Fakt ist, dass eine Impfpflicht rechtlich möglich ist, aber in der Praxis nicht so leicht umzusetzen ist. Im Gegensatz zu Österreich gibt es in Deutschland kein Impfregister. Der Staat weiß nicht, wer geimpft ist und wer nicht. Das lässt sich bei der Masse der Leute auch nicht schnell herausfinden. Man kann Ungeimpfte, die der Pflicht nicht nachkommen, also zunächst gar nicht entdecken. Die einzige Option wären stichprobenartige Kontrollen durch die Kommunen (andere Stellen haben die Einwohnermeldedaten nicht). Jetzt kann aber weder eine Stadt wie Rottweil mit 26.000 Einwohnern noch eine Gemeinde wie Epfendorf mit 3.400 Einwohnern mit dem vorhandenen Personal mehr als 5 % der Bevölkerung prüfen (selbst das wäre sportlich). Prüfen heißt nämlich: Brief schreiben, auf Antwort warten, bei ausbleibender Antwort hinfahren, klingeln, macht keiner auf, wegfahren, hinfahren, hoffentlich kontrollieren. Man wird also den Großteil der Ungeimpften nicht finden können.
- Umgang mit Impfverweigerern: Wenn sich jemand weigert und trotz Zahlung eines Bußgeldes nicht impfen lässt, was dann? Beugehaft ist aufgrund der Masse der potentiellen Impfverweigerer und der ohnehin schon überfüllten Gefängnisse nicht möglich. Die einen werden also das Bußgeld zahlen, sind dann aber trotzdem nicht geimpft. Die anderen können es nicht zahlen, inhaftiert werden können sie irgendwann auch nicht mehr. Eine gewaltsame Verabreichung der Impfung (sog. Ersatzvornahme) dürfte dann doch die Grenzen des Grundgesetzes sprengen. Die Bilder will sich auch niemand vorstellen, wie Uniformierte einen zappelnden Impfgegner einem Arzt vorführen.
- Die Folge ist, dass der Staat aus praktikablen Gründen tolerieren muss, dass etwa 10 bis 15% der Bevölkerung nicht geimpft sind – trotz Impfpflicht.
- Ich glaube, dass man beim derzeitigen Andrang eine Impfquote von 85% auch so erreicht. Wenn nicht, kann man immer noch eine Impfpflicht machen. Das wird sich in den nächsten Monaten zeigen.
- Wenn eine Impfpflicht käme, wäre das die Ultima Ratio und würde vor allem jene, die sich gegen das System insgesamt wenden, darin bestärken, sich zu radikalisieren. Diese Gefahr darf man nicht unterschätzen. Darum wäre eine vorzeitige Einführung einer Impfpflicht eine brandgefährliche Zündelei an unseren Strukturen, die es so lange wie möglich zu vermeiden gilt.
Fazit:
Eine Impfpflicht überstürzt einzuführen ist nur eine scheinbar gute Idee.
Die Umsetzung ist schwierig, der Nutzen ist zum jetzigen Zeitpunkt nahe Null. Diese Erkenntnis ist für mich aber nicht in Stein gemeißelt. Eine Impfpflicht sollte als allerletzte Option auf dem Tisch bleiben. Denn es geht nicht, dass Ungeimpfte den Rest der Bevölkerung in Sippenhaft nehmen, weil sie nicht auf die Wissenschaft hören wollen oder das Vertrauen in den Staat und seine demokratisch legitimierten Vertreter verloren haben. Es gibt viele Dinge, die zum Wohle der Allgemeinheit verboten oder verpflichtend sind. Ich würde es jedoch zutiefst bedauern, wenn es sich bewahrheiten würde, dass eine zu große Zahl an Menschen sich weder solidarisch zeigt noch einsichtig ist.
Eine Impfpflicht zum jetzigen Zeitpunkt schafft jedoch eine Menge Ärger, der Erfolg ist zweifelhaft. Würde man jetzt eine Impfpflicht einführen, wäre diese zum Scheitern verurteilt. Der Staat kann das einfach nicht leisten, weil er immer noch in einer Digitalwüste lebt und auch sonst sich selbst im Weg steht. Eine Impfpflicht mit den zu erwartenden enormen gesellschaftlichen Spannungen einzuführen und dann zu scheitern, wäre die vollständige Blamage des Staates vor den Herausforderungen der Pandemie. Der Vertrauensverlust wäre nicht auszudenken.
In einem oder zwei Monaten kann meine Lagebewertung anders aussehen, aber momentan überwiegt für mich die Gegenseite gegen eine allgemeine Impfpflicht.
Außerdem zeigen die 2G-Regeln und die 3G-Regel am Arbeitsplatz deutliche Wirkung, da die Inzidenzen vorerst fallen. Wie es jetzt weiter geht, muss in den nächsten Tagen entschieden werden. Die Omikron-Variante ist hierbei natürlich bedenklich. Es ist ein erneuter Anstieg zu erwarten. Fraglich bleibt, wie sich die Variante bei Geimpften verhält. Immerhin gibt es hier Hinweise, dass schwere Verläufe immer noch unwahrscheinlicher sind als bei Ungeimpften. Das Thema bleibt weiter spannend.